Die arabische Diglossie
Die sprachliche Situation in der arabischsprachigen Welt wird als „Diglossie“ bezeichnet. Dies bedeutet, dass zwei Sprachregister nebeneinander existieren: Hochsprache und Dialekt, die sich z.B. in Grammatik, Wortschatz und Aussprache mehr oder weniger stark unterscheiden und in jeweils unterschiedlichen Bereichen und Situationen verwendet werden.
Auch im Deutschen kennen wir in einigen Regionen das Nebeneinander von Hochsprache und Dialekt. Im Arabischen ist diese Diglossie jedoch besonders stark ausgeprägt, und die Unterschiede zwischen Hocharabisch und Dialekt sind relativ groß. Am ehesten lässt sich die arabische Diglossie mit dem Nebeneinander von Schwitzerdütsch und Hochdeutsch in der Schweiz vergleichen.
Grob zusammengefasst kann man sagen, dass schriftliche arabische Texte in der Hochsprache verfasst werden und die mündliche Kommunikation im umgangssprachlichen Dialekt erfolgt. Die sprachliche Realität ist jedoch weitaus komplexer, und es gibt zahlreiche Ausnahmen von dieser Faustregel.
Standardsprache Hocharabisch
Hocharabisch als Schriftsprache
Das moderne Hocharabisch ist die Sprache der formellen schriftlichen Kommunikation und Interaktion: Offizielle Dokumente und Urkunden, Websites, Zeitungsartikel etc. sind auf Hocharabisch verfasst, ebenso ein Großteil der arabischen Literatur. In der Schule lernen die meisten arabischen Muttersprachler Hocharabisch, auch wenn der Unterricht oft im Dialekt gehalten wird.
Zusätzliches Prestige erhält das Hocharabische als Sprache des Islam und des arabischen Kulturerbes: Es ist die Sprache des Korans und der klassischen arabischen Dichtung. Nicht zuletzt aufgrund dieser Bedeutung konnte sich die einheitliche Hochsprache über viele Jahrhunderte erhalten.
Freilich muss man bei der Planung von Übersetzungen ins Arabische berücksichtigen, dass die Schriftsprache eine Bildungssprache ist, und die Distanz zur Alltagssprache deutlich größer ist als im Deutschen. Dazu mehr im Artikel über das Dilemma der Diglossie.
Übersetzungen ins Arabische
Wenn es darum geht, schriftliche Texte ins Arabische zu übersetzen, stellt sich die Frage nach Dialekt oder Hocharabisch in der Regel nicht, da in 99% der Fälle ins Hocharabische übersetzt wird. Diese schriftliche Hochsprache ist in Hinblick auf Grammatik und Syntax in allen arabischen Ländern die gleiche Sprache, auch wenn es – zum Beispiel in der Rechtssprache oder bei Behördenbezeichnungen – regional unterschiedliche Ausdrücke und Bezeichnungen geben kann.
Zwar gibt es mittlerweile im informellen Bereich durchaus Bereiche, in denen im Dialekt geschrieben wird (soziale Medien, Messenger, teilweise in der Werbung, in Comics etc.). Das Schreiben im Dialekt bringt jedoch weitere Probleme mit sich, da es zum einen kein einheitliches Regelwerk für das Schreiben arabischer Dialekttexte gibt und zum anderen nicht nur ein arabischer Dialekt existiert, sondern zahlreiche Varianten.
Mündliches Hocharabisch
Umgekehrt gibt es durchaus auch Situationen, in denen Hocharabisch gesprochen wird: Bei offiziellen Anlässen, bei Vorträgen, in der politischen Rhetorik und in den Medien (Nachrichtensprecher) ist Hocharabisch die Regel, häufig mit mehr oder weniger starken dialektalen Einschüben.
Oft wird auch im mündlichen Sprachgebrauch zwischen Hocharabisch und Dialekt gewechselt, manchmal mitten im Satz. Ungeschriebene Konventionen bestimmen, wann und in welchen Situationen Dialekt oder Hocharabisch bzw. Hocharabisch mit Dialektanteilen angemessen ist. Dies stellt nicht zuletzt Arabischlernende vor besondere Herausforderungen. Aber auch arabische Muttersprachlerinnen und Muttersprachler haben nicht selten Schwierigkeiten mit der zum Teil großen Distanz zwischen den beiden Sprachregistern.
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Dialekt als Umgangssprache
Die eigentliche Muttersprache
Man kann arabischen Dialekte als die eigentliche Muttersprache arabischsprachiger Menschen bezeichnen: In der Familie wird Dialekt gesprochen, Kinder erlernen zuerst den Dialekt ihrer Familie und hören ihn ständig im Alltag: Arabische Dialekte sind die Sprache der alltäglichen, informellen Kommunikation in den verschiedensten Bereichen. Mit der Hochsprache kommen die meisten arabischen Muttersprachler erst im Schulalter in Berührung.
Unterschiedliche Dialekte
Die arabischen Dialekte können einerseits geographisch betrachtet werden und werden der Einfachheit halber oft in grobe Gruppen eingeteilt: So lassen sich die großen Dialektgruppen „Nordafrika“ (umfasst die Maghreb-Staaten Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen), „Ägypten“ (auch: Sudan), „Levante“ (Syrien, Libanon, Israel, Palästinensische Autonomiegebiete, Jordanien), „Irak“ und „Golfstaaten“ bzw. Arabische Halbinsel (Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain, Katar, VAE, Oman, Jemen) unterscheiden.
Aber auch innerhalb dieser Dialektgruppen gibt es große Unterschiede. Zum Beispiel zwischen der Hauptstadt und dem Rest des Landes, zwischen ländlichen und städtischen Regionen, manchmal sogar zwischen einzelnen Dörfern. Hinzu kommt eine vertikale Dimension: Höhere soziale Schichten sprechen oft anders als Angehörige ärmerer Gruppen.
Englischen und Französisch
Die soziolinguistische Situation in der arabischen Welt wird zusätzlich durch die Rolle der ehemaligen Kolonialsprachen Englisch (v.a. Golfstaaten) bzw. Französisch (Maghrebstaaten) kompliziert. Diese beiden Sprachen spielen in der Wirtschaft, im Bildungssystem, teilweise als zweite Amtssprache und in den gebildeten Kreisen oft eine große Rolle und besetzen in manchen Situationen den Bereich, in dem man nach der obigen Beschreibung eigentlich die arabische Hochsprache erwarten würde.
Arabische Sprachentwicklung
Während sich die arabische Hochsprache nicht zuletzt aufgrund ihrer normativen Rolle als Prestigesprache und der Existenz fester Regeln und einer normativen Grammatik nur langsam verändert, z.B. im Bereich des Wortschatzes, sind die arabischen Dialekte umso anpassungsfähiger, zumal sie keinen von oben vorgegebenen Regeln unterliegen.
Parallel dazu ist zu beobachten, dass das Verhältnis von Hochsprache und Dialekt nicht zuletzt durch technische Entwicklungen einem starken Wandel unterworfen ist. Dabei sind in den letzten Jahrzehnten zwei gegenläufige Tendenzen zu beobachten.
Mit dem Aufkommen des arabischen Satellitenfernsehens ab Ende der 1990er Jahre – allen voran der katarische Sender Al-Jazeera – erlebte das Hocharabische als Mittel der mündlichen Kommunikation und des intellektuellen Diskurses zwischen arabischsprachigen Menschen in verschiedenen arabischen Ländern einen großen Aufschwung. Andererseits hat die Verbreitung sozialer Medien, allen voran Facebook und Whatsapp, dazu geführt, dass viele Menschen in der arabischen Welt schriftlich im Dialekt kommunizieren.
Arabisch als sprachliches Kontinuum
Es ist fraglich, ob der Begriff der Diglossie, der das Nebeneinander zweier Sprachregister betont, für das Arabische wirklich zutreffend ist. Sicherlich ist er hilfreich, um die soziolinguistische Situation zu beschreiben und einzuordnen.
Die genannten Ausnahmen (mündliches Hocharabisch und schriftlicher Dialekt) sowie die Zwischenvarianten (Hocharabisch mit Dialektelementen bzw. Dialekt mit hocharabischen Einsprengseln) sprechen jedoch dafür, dass man den Komplex „arabische Sprache“ auch als ein großes sprachliches Kontinuum betrachten kann, in dem es verschiedene Abstufungen und Registerebenen gibt, die ineinander übergehen und sich durchdringen.
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